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Nietzsche-Ausstellung: «Werde, der du bist»

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«Man muss sich durch einen Vorhang mit Nietzsches Porträt in sein Inneres und in sein Universum begeben»: Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Hubert Thüring. (Bild: Universität Basel, Oliver Hochstrasser)

Zum 175. Geburtstag von Friedrich Nietzsche – und zum 150. Jahrestag seiner Berufung an die Universität Basel – zeigt das Historische Museum Basel eine Ausstellung über den wohl berühmtesten Professor dieser Stadt. Ein Ausstellungsbesuch mit dem Nietzsche-Experten und Nachlasseditor Prof. Dr. Hubert Thüring vom Fachbereich Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft.

Herr Thüring, «Übermensch – Friedrich Nietzsche und die Folgen» heisst die Ausstellung. Auf welches Publikum wird hier abgezielt? 

Das ist Nietzsche für alle. Wenn man eine Ausstellung «Übermensch» nennt, dann will man die Leute, die breite Masse mit Schlagworten ansprechen. Das sind Vorstellungen im ganzen Bereich des Nicht-Philosophischen und der Populärkultur. Aber das hat sich Nietzsche zu einem grossen Teil auch selbst zuzuschreiben. Er hat diese Schlagworte und diese Sprüche – wie etwa «Gott ist tot» und «Werde, der du bist» – ja geprägt. Sie stehen in der Ausstellung auf schwarzen Tafeln mit grellfarbiger Leuchtschrift ‒ ohne Quellenangaben.

Was macht Nietzsche bis heute so populär?

Das rührt vielleicht von seiner tragischen Vita mit all ihren Widersprüchen her. Von den Gegensätzen zwischen seiner miserablen Existenz und seinen Begriffen wie dem «Übermenschen». Und von den um sich greifenden, aufgeladenen Nietzsche-Phantasmen, die sofort in der Kunst und in den Medien bis hin zur populären Filmkultur übernommen wurden.

Man kennt Nietzsches Ende im Wahn, vielleicht sogar den einen oder anderen Aphorismus und natürlich sein Markenzeichen: den Schnauz …

… und da wird man zu Beginn der Ausstellung mit dieser Physis auf eine Weise konfrontiert, wie man das nicht erwartet hätte. Man muss sich durch einen Vorhang mit Nietzsches Porträt, also durch seinen Schnauz sozusagen, in sein Inneres und dann entlang dieser bunten Verkabelungen – seiner Nerven und Blutbahnen vielleicht – in sein Universum begeben.

Sein Leben ist ja relativ gut dokumentiert: dank ihm, aber auch dank seiner Schwester.

Das stimmt. Man weiss viel über seine Lebenspraxis. Und man lernt ihn in der Ausstellung ebenso als Menschen des Alltags kennen, für den er sich ja auch theoretisch interessiert hat. Man lernt ihn kennen als einen, der sich zum Beispiel mit dem Essen befasst, Diäten betreibt, ständig krank ist, an Migräne und Verdauungsstörungen leidet.

Was für ein Nietzsche-Bild wird uns in der Ausstellung präsentiert?

Einerseits ganz klar das des Philosophen, der mit kontroversen Konzepten und Begriffen zum Denken anregt. Anderseits als ein Alltagsmensch, als einer, der gelebt hat. Aber vielleicht weniger als einer, der gearbeitet hat.

Widerspricht das Ihrer Vorstellung

Er war ein enormer Arbeiter. Er musste arbeiten, wie sämtliche Gelehrte – damals wie heute. Zumindest wenn man einen gewissen Anspruch an sich selbst hat. Aber das bleibt in der Ausstellung vielleicht doch etwas unterdokumentiert …

… und passt vielleicht auch nicht zum Bild des genialen Philosophen und irren «Übermenschen»?

Nietzsche war ein Philosoph, der sich seine Gedanken «erschrieben» hat. Seine Sätze sind nicht einfach vom Himmel gefallen. Er hat experimentiert und seine Notizen bis zum publizierten Text viele Male umformuliert. Man kann nur grossen Respekt haben vor Nietzsche als Schreib- und Schriftarbeiter. Aber das kommt in dieser Ausstellung überhaupt nicht zum Tragen – schade, wenn man bedenkt, wie viel von ihm erhalten ist.

Was interessiert Sie persönlich an Nietzsche?

Im Rahmen der Nietzsche-Edition versuchen wir über die Entstehung seiner Texte und den Schreibprozess Auskunft zu finden. Sein reich dokumentierter Nachlass enthält alleine über 100 Notizhefte aus der Basler Zeit ab 1869 bis zum Ende seiner produktiven Zeit 1889. Dort wird ersichtlich, wie Nietzsche gearbeitet hat. Mich interessiert genau das: seine Schreibprozesse nachvollziehen zu können.

Viele finden es übertrieben, sämtliche Notizblätter, auch noch die losen, zu dokumentieren. Warum braucht es überhaupt Editionen?

Bei der immensen Tragweite des Nietzsche’schen Werks bis ins 20. Jahrhundert hinein und bis heute sind Editionen schlichte Notwendigkeit. Das sind grossartige Texte, unverkennbar und unverwechselbar.

 

Basel und die Nietzsche-Edition

Das deutsch-schweizerische Editionsprojekt «Der späte Nietzsche» veröffentlicht seit 2001 seinen Nachlass aus den Jahren 1885 bis 1889 erstmals integral und manuskriptgetreu. Projektleiter ist Prof. Dr. Hubert Thüring von der Universität Basel. Zusammen mit der vollständigen Faksimilierung der Manuskripte wird der Nachlass dokumentiert und so transkribiert, wie er in den Notiz- und Arbeitsheften sowie auf losen Blättern im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv vorliegt.

In Bearbeitung sind derzeit die späten Aufzeichnungen auf losen Blättern. Bereits fortgeschrittener ist eine digitale Edition, die in Zusammenarbeit mit der Nationalen Infrastruktur für Editionen NIE-INE realisiert wird.