Promotionsprojekt
Constantin Sinn
Klimaphilologie. Friedrich Nietzsches meteorologisches Aufschreibesystem
Erstbetreuer: Prof. Dr. Hubert Thüring (Universität Basel)
Zweitbetreuerin: Prof. Dr. Helmut Heit (TU Berlin/Klassik Stiftung Weimar)
Friedrich Nietzsche war vom Wetter getrieben. Auf seiner Suche nach halkyonischen Tagen reiste er zwischen der Schweiz, Frankreich und Italien umher und zeichnete in seinen Notizbüchern Klimadaten zu Luftdruck, Temperatur und Luftfeuchtigkeit auf. Nietzsche konsultierte meteorologische und physikalische Literatur, hantierte mit eigenen Messinstrumenten, verkehrte mit der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt und berichtete in Briefkorrespondenzen davon, wie sich die Wetterverhältnisse vor Ort auf seinen Gemütszustand und seine körperlichen Leiden auswirkten. Wetterphänomene wie Wolkenelektrizität oder den heißen Scirocco-Wind verarbeitete er literarisch und philosophisch in seinen Werken.
Für Nietzsche »gebietet ein Instinkt der Selbsterhaltung« (EH, KGW VI/3: 289), sich mit der »Frage nach Ort und Klima« und dem »klimatische[n] Einfluss auf den Stoffwechsel« zu beschäftigen (280). Seine Auseinandersetzung mit dem Wetter bezeichnete er selbst einmal als »klimatologische[] Studien« (KGB III/1: 350). Stefan Zweig sprach von Nietzsches meteorologischen Aktivitäten als seine »private zweite Wissenschaft« (Zweig 1925, zitiert nach Bloch/Schwarz 22014: 137). Diese zweite Wissenschaft und ihre Verschränkungen mit Nietzsches literarischem Schreiben, die ich als Klimaphilologie bezeichne, ist das Forschungsthema des Dissertationsprojekts. Es fragt danach, wie sich Nietzsches Wetterwissen in seinen philosophischen Texten und Gedichten wiedergefunden hat und inwiefern es in den Klimadiskurs der Moderne eingebunden ist.
Zur Erörterung dieser Frage sind Ziele und Methoden der Dissertation: 1. Nietzsches Empirie, seine meteorologisch-klimatologische Aufzeichnungspraxis kulturtechnisch und schreibprozessual zu erforschen, 2. Nietzsches Poesie, den klimatisch-atmosphärischen Konstruktionscharakter seiner literarischen Texte aus der Perspektive des Ecocriticism zu interpretieren, 3. mit Nietzsche eine Klimaphilologie zu entwickeln, die sowohl Empirie und Poesie als je eigenständige sprachliche Darstellungsweisen von Wetter und Klima als auch ihre Verschränkungen untersucht und 4. diese kartographisch darzustellen. Durch diese Zusammenführung greift die Dissertation zum einen eine gegenwärtige Forderung aus Geistes- und Kulturwissenschaften nach einem ästhetischen Klimabegriff auf. Zum anderen wird eine Lücke in der Nietzscheforschung geschlossen, indem sie aufzeigt, aus welchen Quellen Nietzsche sein meteorologisches Wissen bezog und wie er es literarisch verarbeitete.