Leben wiederverwerten. Prozesse produktiver Transformation in Robert Walsers ,Kleiner Prosa‘ zwischen Biographismus, Biopolitik und Vitalismus

Robert Walser lebt und schreibt im Schatten des Ersten Weltkriegs und unter dem Diktat knapper Ressourcen, im Sog der Massenmedien und im Zeichen der aufkommenden Ökologie. Es sind Bedingungen, welche die individuelle wie kollektive Existenz dem Imperativ des Wertes, der Verwertung und der Wiederverwertung aussetzen. Das Projekt möchte zeigen, wie Walser diese Kontexte in sein Schreiben aufnimmt und darin neue Formen und Kräfte des Lebens entwickelt, welche aus den reduktionistischen und repressiven Bedingungen neue Möglichkeiten der Existenz schaffen.

Dies geschieht, so die These, mittels ästhetischer Verfahren des Um- und Neuschreibens von Texten, also Verfahren der Wiederverwertung, welche die inneren und äußeren Prozesse des Lebens, vom individuellen biologischen Körper über den praktischen Alltag bis zur politischen Regie, in die Prozesse des Schreibens selbst integrieren, die ihrerseits Leben als Stoff und Form (wieder-)verwerten und neu hervorbringen. Anhand von Walsers 'Kleiner Prosa' der 1910er Jahre lässt sich ganz konkret beobachten, wie das serielle Verfassen von Feuilletontexten und ihre Wiederverwertung und Neuschreibung für eigenständige Sammlungen als konkrete (Über-)Lebenspraxis im politisch-sozialen, ökonomischen sowie wissenschaftlich-technischen Kontext, den die Zeitungen und Zeitschriften indizieren, funktioniert.

Das Projekt knüpft ausgehend von der Problematik des 'Leben-Schreibens' einerseits an den breiteren wissenschaftlichen Forschungsbereich an, der das Verhältnis von Effizienzsteigerung (versus Leerlauf) und Regulation (versus Individuation) untersucht (vgl. das nationale Forschungsprogramm "Steuerung des Energieverbrauchs"). Andererseits fragt es praktisch-philosophisch nach dem Erkenntniswert der Literatur für das 'gute Leben'. Mit kulturwissenschaftlichem Blick gilt es, die in Walsers Texten und den Ko-Texten der Zeitungen und Zeitschriften wirksamen zeitgenössischen Diskurse in ihrer Vernetzung zu beschreiben und insbesondere unter den Aspekten des literarischen Biographismus, des philosophischen Vitalismus und der Biopolitik zu fokussieren. Schließlich werden die Poetik der Einzeltexte im Prozess der Entstehung und Umschreibung sowie die Komposition der Sammlung(en) philologisch-textkritisch und rhetorisch-stilistisch analysiert und poetologisch reflektiert. Im Spannungsfeld zwischen der Schreibbarkeit des Lebens und der Lebbarkeit des Schreibens sieht die Analyse folgende vier Schritte vor:

1. Zunächst gilt es, die Bedingungen einer Wiederverwertung des Lebens in den zeitgenössischen Diskursen der Tagespresse unter der Perspektive der Biopolitik und in den literarischen Diskursen der Zeitschriften unter der Perspektive des Biographismus zu verorten. Die meisten Texte Walsers sind zunächst in diesen Medien und nicht als literarisches Buch erschienen. Es wird zu zeigen sein, wie seine Feuilletons und Zeitschriftenbeiträge die Problematik der Verwertung in zugespitzter Form reflektieren und wie sie als Ausgangsmaterial eines Recyclingprozesses hin zur Buchpublikation dienen.

2. In einem zweiten Schritt soll unter dem Aspekt des Biographischen und mit dem Konzept der Autofiktion untersucht werden, wie das Umschreiben unter den sich verändernden Schreibbedingungen als vita activa für den Schreibenden ökonomische, politische und kulturelle Überlebens-Relevanz erlangen. Diese Bedingungen werden im Vorgang des Umschreibens zugleich reflektiert und zum Ausgangspunkt eines produktiven Prozesses gemacht, der das Leben als Erzähl- oder Schreibbares erst hervorbringt und das Schreiben zur Lebbarkeit gestaltet. Dabei muß dieses Leben-Schreiben unter den technologischen Bedingungen seines Veröffentlichungszusammenhangs in den Massenmedien, aber auch als reflektierteWiederverwertung der biopolitischen Kontexte verstanden werden.

3. In einem dritten Schritt wird anhand des Sammelbandes Kleine Prosa untersucht, wie diese Bedingungen konkret produktiv gemacht werden: Die Umarbeitungen werden auf der Grundlage des kriegsbedingten Recyclings und der vitalistischen Biologie (A. Koelsch) als die Biopolitik verkehrende auktoriale Strategien verstanden; diese Umarbeitung kann bis in die rhetorisch-poetische Faktur der Texte hinein analysiert werden.

4. In einer abschliessenden theoretischen Reflexion sollen die Schreibverfahren Walsers in die zeitgenössische Ökologie (J. v. Uexküll) und Kulturphilosophie (E. Cassirer) eingebettet werden, um insbesondere mit der ‚symbolischen Form‘ der Kunst nach dem spezifisch ästhetischen Verfahren von Walsers Leben-Schreiben und dessen spezifischem Ort im Dispositiv der Werte und Verwertungen zu fragen.

Projektmitarbeitende