Praxeologische Narratologie und frühmittelalterliche Erzählkulturen. Untersuchungen zur volkssprachigen und lateinischen Bibeldichtung

Das Forschungsprojekt befasst sich mit dem in der kulturwissenschaftlichen Mediävistik vieldiskutierten Problem des Verhältnisses von poetischen Texten und mittelalterlicher Kultur und geht der Frage nach Wissensschichten nach, die den Texten zugrunde liegen. Untersucht werden das ‚Evangelienbuch‘ Otfrids von Weissenburg und der ‚Heliand‘ unter Verwendung des Instrumentariums der praxeologischen Narratologie. Diese richtet ihr textanalytisches Interesse auf das erzählte Handeln, ihr Handlungsbegriff wurde unter Rückgriff auf die praxeologische Soziologie entwickelt. Erzähltes Handeln wird zum Hauptgegenstand, weil es auf das praktische Wissen Bezug nimmt, unter dessen Prämissen das Handeln in Erzählungen von den historischen Rezipienten als sinnhaft verstanden werden konnte. Mithilfe der Handlungsanalyse soll die Ordnung des praktischen Wissens vergangener Kulturen rekonstruiert werden. Erzählungen sind der bevorzugte Ort, an dem Handeln und praktisches Wissen thematisiert werden können, ohne dass das implizite praktische Wissen in begriffliche Explikation überführt werden muss. Der Ansatz versucht so, historische Wissensschichten zugänglich zu machen, die für das Textverständnis wichtig, die aber ausserhalb von erzählenden Texten nur schwer zugänglich sind.

Diese anhand von Texten des 12. bis 16. Jahrhunderts entwickelten Grundüberlegungen wendet das Forschungsprojekt auf Texte des frühen Mittelalters an, wobei auch die spätantike Bibeldichtung berücksichtigt wird. Die Frage nach den Ordnungen des praktischen Wissens wird mit der Frage nach der Spezifik des volkssprachigen Erzählens im Frühmittelalter, insbesondere des heroischen Erzählens, verknüpft. Die beiden zu untersuchenden Texte nehmen eine vermittelnde Stellung zwischen der laikal-mündlichen und der klerikal-literaten Kultur des Frühmittelalters ein. Von dieser Zwischenstellung ausgehend, sollen die Eigenheiten volkssprachigen frühmittelalterlichen Erzählens genauer beschrieben werden. Die Frage nach der Spezifik volkssprachigen Erzählens erfordert einerseits den kontrastiven Einbezug der lateinisch-literaten Tradition, andererseits sichert sie den Anschluss an die weitere mediävistisch-narratologische Diskussion.

Die Ziele des Projekts sind: erstens die Weiterentwicklung und Differenzierung des theoretisch-methodischen Ansatzes der praxeologischen Narratologie, zweitens ein genaueres Verständnis der frühmittelalterlichen narrativen Verfahrensweisen in der Volkssprache im Vergleich mit den lateinisch-gelehrten Traditionen, drittens die Ermittlung als signifikant einzuschätzender, narrativ präsentierter Handlungskonstellationen und dadurch, viertens, die Rekonstruktion der Ordnung des praktischen Wissens im frühen Mittelalter im Spannungsfeld geistlich-literater und laikal-oraler Kultur.