Sebastian Brants ‚Narrenschiff’ (Basel, 1494) als Ausdruck einer topisch strukturierten Wissensordnung.

In seiner Gesamtheit wie auch in seinen einzelnen Kapiteln ist das ‚Narrenschiff’ konsequent nach den Vorgaben der antiken Topik strukturiert. Deren Kenntnis und Anwendung im Rahmen der rhetorischen inventio zur Auffindung möglicher Argumente für eine Erörterung war seit ihrer theoretischen Grundlegung durch Aristoteles und ihrer Weiterentwicklung bei Cicero und Quintilian im Rahmen des Rhetorikunterrichts fortlaufend bis in die Zeit des Humanismus hinein tradiert worden. An den im deutschsprachigen Raum während des Spätmittelalters entstandenen Universitäten hatten die Rhetorik und mit ihr auch die Topik einen festen Platz im Bildungskanon der septem artesliberales. Im Zuge der zunehmenden Bedeutung humanistischer Bildungsideale erfuhr die Topik eine neuerliche Weiterentwicklung: So findet sich bereits im 15. Jh. in Rudolf Agricolas Traktat über die dialektische inventio das Potential und der Anspruch, den gesamten zeitgenössischen Wissensbestand nach den Prinzipien der Topik zu strukturieren.

Derweil sich die, bei den Humanisten vielfach nur mässig beliebte, Dialektik um kohärente Beweisketten bemüht, dient die Topik der rhetorischen Praxis und somit der Ausarbeitung einer auf Überzeugung hin orientierten Rede oder Abhandlung, die deshalb auch nicht primär rational schlüssig zu sein, sondern vielmehr eine dem eigenen Standpunkt dienliche affektive Wirkung zu erzielen hat. Die rhetorische Textgestaltung dient folglich dazu, grösstmögliche Plausibilität und Evidenz hinsichtlich eines bestimmten Sachverhalts zu evozieren. Als Bestandteil rhetorischer Verfahren dient diesem Zwecke auch die Entfaltung des im jeweiligen Zusammenhang zentralen Begriffs in einer möglichst grossen Fülle von (mit ihm logisch zusammenhängenden) topoi bzw. loci, deren argumentativer Wert jedoch erst dann wirklich manifest wird, wenn sie durch „materielle“ Topoi ausgestaltet werden, indem sie also etwa mittels exemplarischer Narrative oder autoritativer Sentenzen konkretisiert und illustriert werden und so Glaubwürdigkeit erzeugen können.

Tatsächlich zeigt sich nun auch im ‚Narrenschiff‘, dass die argumentative Entfaltung des zentralen Begriffs der „Narrheit“ ebenso wie jene der dieser als Unterbegriffe zugeordneten einzelnen für närrisch befundenen Handlungsweisen in den jeweils mit diesen zu assoziierenden Gesichtspunkten den Strukturprinzipien der antiken Topik folgt. Als für die Poetik des Werks konstitutives Gestaltungsmittel bietet die Topik Brant die Möglichkeit, ganz unterschiedliche Wissensbestände rhetorisch nutzbar zu machen und in die moraldidaktische Argumentation zu integrieren. Im Einzelnen äussert sich die hierdurch bedingte prinzipielle Offenheit hinsichtlich der Ausgestaltung der zum Zwecke rhetorischer Argumentation aktualisierten Topoi darin, dass diese durch in ihrem Wesen und in ihrer Provenienz ganz unterschiedliche Stoffe exemplifiziert werden: Im ‚Narrenschiff’ eignen sich zu diesem Zwecke Zitate oder Paraphrasen von Bibelstellen ebenso wie Hinweise auf biblische oder antike Exempelfiguren bzw. -geschichten, wörtlich wiedergegebene antike Sentenzen finden ebenso Verwendung wie volkssprachliche Sprichwörter, theologische Kategorien und Metaphern aus der Patristik tauchen ebenso auf wie konkrete intertextuelle Bezüge zu ganz unterschiedlichen Schriften. Diese Vielfalt von Zusammenhängen mit mannigfaltigen Wissensfeldern ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Brant sich im Rahmen seiner „nebenamtlichen“ Editionstätigkeit für verschiedene Basler Drucker die profunde Kenntnis eines breiten und heterogenen Spektrums unterschiedlichster Quellentexte angeeignet hatte, für welche ein Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des ‚Narrenschiffs’ nicht nur naheliegend erscheint, sondern zumindest in einigen Aspekten ganz offenkundig ist, so etwa in der gerade auch in ihrer moraltheologischen Dimension massgeblich durch Augustin inspirierten Narren- und Schifffahrtsmetaphorik.

Projektmitarbeitende

  • Lysander Büchli, M. A.