Zur Konstituierung von Erzählinstanzen in lateinischer und volkssprachlicher Epik des 12. und 13. Jahrhunderts
Erzählen gehört zu den Grundmustern menschlicher Kommunikation. Die Narratologie als wissenschaftliche Theorie des Erzählens bildete sich im 20. Jahrhundert vornehmlich auf der Basis neuzeitlicher erzählender Texte heraus. Vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Roman des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelte die Narratologie ein analytisches Instrumentarium, um die Bedingungen, die strukturellen Merkmale und die Grundoperationen des Erzählens, genauer: erzählender Texte zu erfassen. Die begrifflichen Bestimmungen der modernen Erzähltheorie beziehen sich in erster Linie auf die Analyse der Erzählerinstanz, des Erzählvorganges und der Erzählperspektive. Die Theoriebildung ist dabei wesentlich durch die kulturellen Besonderheiten der Untersuchungsgegenstände geprägt.
Erzählen ist seinem Ursprung nach eine Kategorie der Mündlichkeit. Die Narratologie hat sich jedoch vornehmlich an Texten abgearbeitet, in welchen diese Dimension sekundär wurde oder ganz abhanden gekommen ist. Mittelalterliches Erzählen bewegt sich viel stärker im Spannungsfeld von Oralität und Literalität. Insofern stellt sich die grundlegende Frage: Wie sieht eine Narratologie aus, die ihre Begrifflichkeiten und ihre Analysekategorien anhand von mittelalterlichen Texten gewinnt?
Nur wenige Versuche sind bisher unternommen worden, mit dem analytischen Instrumentarium der modernen Erzähltheorie an mittelalterliche Erzähltexte heranzutreten. Ein solches Unternehmen ermöglicht es jedoch nicht nur, die spezifische Historizität der modernen Narratologie aufzuzeigen, sondern auch – und dies ist wesentlich wichtiger – den Charakteristika mittelalterlichen Erzählens auf die Spur zu kommen. Auf der Folie der modernen Theoreme lassen sich die Spezifika und Parameter mittelalterlicher Erzählformen greifen.
Gerade die Frage der Herausbildung von Erzähler-Instanz scheint vor dem Hintergrund epochal distinkter Erzählkulturen besonders aufschlussreich. So gilt es zu untersuchen, wie sich Erzählerinstanzen in der mittelalterlichen Epik konstituieren. Rechnung getragen werden soll insbesondere dem Umstand, dass mittelalterliches Erzählen nicht nur wesentlich durch das Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit geprägt ist, sondern auch durch das Neben- und Miteinander von lateinischer und volkssprachlicher Literatur.
Das Projekt richtet seinen Fokus dementsprechend auf lateinische und volkssprachliche Epik aus dem 12. und 13. Jahrhundert und geht vor dem Hintergrund moderner Erzähltheorie der Frage nach, wie Schriftautorität, Autorschaft und die Inszenierung eines als ursprünglich imaginierten Verhältnisses mündlicher Kommunikation zusammenspielen. Den figurierten Erzähler gilt es denn auch nach zwei Seiten hin engzuführen bzw. abzusetzen. Einerseits gegenüber den Maskeraden und Manifestationen der Autorschaft, die ein intertextuelles Spiel mit Beglaubigungsformen treibt; andererseits gegenüber dem Figurenbewusstsein und der Figurenerzählung, wobei Formen der Introspektion, Figurenrede und Perspektivierung/Fokalisation beachtet werden müssen.
In bestimmten Fällen lässt sich die Erzählinstanz auch erst als Teil des Werkprozesses fassen. Auch wo kein manifester Erzähler auftritt, gibt es konfabulatorische Energien, die kreative Freiräume öffnen und besetzen. Die Spur einer solchen textkompositorischen Erzählinstanz zeigt sich in Detailanreicherungen, neuen Figuren etc. Die für mittelalterliches Erzählen charakteristischen Verfahren von »Wiedererzählen und Übersetzen« (Worstbrock) gewinnen hier spezifisch Kontur.
Im Zentrum der komparatistischen Studie stehen Bearbeitungen von Stoffen, die sowohl in der lateinischen als auch in der volkssprachlichen Literatur Niederschlag gefunden haben, wie beispielsweise Alexanderdichtungen. Von besonderem Interesse sind zudem lateinische Texte, die auf volkssprachliche Vorlagen zurückgehen, wie etwa die Gregorius-Übersetzung Arnolds von Lübeck im Vergleich mit Hartmanns Werk. Des Weiteren stellen aber auch der Herzog Ernst-Stoff, lateinische Bearbeitungen des Artus-Stoffes in der Gegenüberstellung mit den volkssprachlichen Artusromanen oder die lateinischen und deutschen Versionen der Albanuslegende ergiebige Untersuchungsfelder dar. Diese Vielfalt ermöglicht es, die Konstituierung von Erzählinstanzen auch im Hinblick auf unterschiedliche Stoffkreise zu beleuchten.
Projektmitarbeitende
- Prof. Dr. Seraina Plotke