/ Forschung / Michael Woll

Dann: Dass ich auch vor fünfzig Jahren war

Die Hofmannsthal-Gesellschaft erinnert sich an ihre Gründung ausgerechnet im Jahr 1968 und ausgerechnet in Frankfurt

 

Der Vorwurf des Anachronistischen hatte den Dichter schon zu Lebzeiten begleitet. Alfred Kerr formulierte anlässlich der Aufführung der großen Komödie „Der Schwierige“ 1921 über Hugo von Hofmannsthal: „Jetzt, nach Schluss des Weltkrieges, findet er das erlösende Drama: ein Verlobungslustspiel aus der Komtessenschicht. Kurz, was die Zeit halt braucht.“ Auch als die Hofmannsthal-Gesellschaft ausgerechnet im Jahr der Studentenproteste gegründet wurde, waren ihr Polemik und Häme gewiss. An ihr fünfzigjähriges Bestehen erinnerte jetzt eine Veranstaltung im Freien Deutschen Hochstift mit dem schlichten, den damals so provozierenden Gegensatz einfangenden Titel „Hofmannsthal 1968“.

In dieser Zeit prägte Walter Jens in Anspielung auf Hofmannsthals Wohnort das Wort von den „Getreuen von Rodaun“. Den Esoterik-Verdacht gegen den als elitär empfundenen Kreis suchte man überall zu bekräftigen: an dem nur Mitgliedern zugänglichen Periodikum der „Hofmannsthal-Blätter“ ebenso wie am Tagungsort, dem noblen Hotel „Frankfurter Hof“, dessen „livrierte Portalwächter“ und „wohltemperierte Gesellschaftsräume“ mit „Wandteppich und Plüschsesseln“ Thema in den Feuilletons waren. Auch die bei der Versammlung geäußerte Sorge vor einer feindlichen Übernahme durch einen Masseneintritt von SDS-Mitgliedern sorgte für Spott.

Tatsächlich aber begann mit der Gründung der Hofmannsthal-Gesellschaft ein neuer Abschnitt für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Hofmannsthals Werk. Der heutige Vorsitzende, Alexander Honold (Basel), sprach mit einem Begriff Michail Bachtins von einem „Chronotopos“ Frankfurt 1968. Durch die Hofmannsthal-Gesellschaft und das eng damit verknüpfte Projekt der Kritischen Ausgabe, die seit 1975 bei S. Fischer erscheint und heute vor dem Abschluss steht, wurde die Stadt, die zu Lebzeiten keine Rolle fur den Autor gespielt hatte, zu einem Zentrum der Hofmannsthalforschung. Während des Krieges hatte diese Forschung fast ausschließlich in der Emigration stattfinden können; der Nachlass war auf England und die Vereinigten Staaten verteilt. Mit der Zusammenführung des Materials im Freien Deutschen Hochstift, die verbunden ist mit dem Germanisten Richard Alewyn und dem langjährigen Geschäftsführer des S. Fischer Verlags, Rudolf Hirsch, kehrte auf gewisse Weise eine ganze Autorenforschung aus der Emigration zurück. Sie blieb zugleich, in ihrer zunächst aus der Not geborenen Internationalität, langfristig durch die Exilgeschichte geprägt.

Es war der Germanist Martin Stern, der den Nachlass in Harvard bei Herbert Steiner kennengelernt und eine Edition des Komödienfragments „Silvia im ‚Stern‘“ vorgelegt hatte, der die Gründung der Gesellschaft betrieb und ihr erster Vorsitzender wurde. Die Schlaglichter, die Stern nun im Gespräch mit Elsbeth Dangel-Pelloquin und Konrad Heumann auf die Kontroversen der Grundungszeit warf, zeugten nicht nur von der Provokation, die Hofmannsthal 1968 für die Öffentlichkeit bildete, sondern auch von den Spannungen in der Dichtergesellschaft selbst, gerade zwischen Konservativen und Linksliberalen, aber auch zwischen Emigranten und ehemaligen NSDAP-Mitgliedern.

Das Schweigen der Nachkriegszeit ließ die Konflikte nicht offen zutage treten. Nur manchmal wurde es in Ansätzen durchbrochen – etwa in der Auseinandersetzung darum, welchen Stellenwert die Exilgeschichte für das Selbstverständnis der Hofmannsthal-Gesellschaft besitzt, oder in der Diskussion um den letztlich ausgefallenen Auftritt von Walter Jens auf der ersten Tagung in Frankfurt. Die politische Frage wurde von der Doppelung zwischen Wissenschaftlern und Liebhabern, welche die Gesellschaft bis heute auszeichnet, sublimiert. Psychoanalytische, strukturalistische und geschichtsphilosophische Methoden veränderten im Lauf der Zeit den Zugang zu Dichter und Werk. Dass sich die Haltung änderte, zeigte sich schon in den kritischen Würdigungen Hofmannsthals durch Jens, Hans Mayer und Marcel Reich-Ranicki zum hundertsten Geburtstag 1974.

1968 stand der Umgang mit dem Material aus dem Nachlass im Zentrum. Dass Alewyn, der den Hauptvortrag kurzfristig von Jens übernommen hatte, vor dem Hintergrund der zahlreichen unvollendeten Manuskripte über „Hofmannsthals unvollendetes Werk“ sprach und dabei Gedanken über „Werkzweifel“ und die „Gebärde des Versagens“ äußerte, wurde im Feuilleton damals noch eigens hervorgehoben mit dem Hinweis auf ein neues Hofmannsthal-Bild, das Alewyn „nicht ohne Gewaltsamkeit der Moderne näherzurücken suchte“ (Ingrid Krüger in der „Welt“). Im Jahr 2017 nun stand die neunzehnte Tagung der Gesellschaft wie selbstverständlich unter der Überschrift „Hofmannsthals Komödie des Scheiterns“, doch allein der Titel drückte den Wunsch aus, das Werk – bei aller Kritik – zu verteidigen. Die Ernsthaftigkeit ins Bewusstsein gerufen zu haben, mit welcher der Streit um das Werk eines Dichters innerhalb und außerhalb der Institutionen zu führen ist, gehört zum Verdienst der Jubiläumsveranstaltung.

Artikel aus der FAZ, 18.04.2018, Nr. 90 S. N3